Im Kampf gegen das Virus verzeichnet Thailand Erfolge. Aber der Preis ist hoch, und die Grenzen bleiben vorderhand dicht. Eine Öffnungsstrategie ist nicht erkennbar.
Das Tragen von Atemmasken war in Thailand schon vor Covid-19 recht verbreitet. Die derzeitige Maskenpflicht wird viel besser befolgt als das Helmobligatorium für Motorradfahrer.
Anfänglich glaubte jedermann, dass in Thailand einfach weniger getestet werde. Wie sonst sollte man erklären, dass das Königreich mit seinen fast 70 Mio. Einwohnern kaum Sars-CoV-2-Infektionen auswies? Doch sechs Monate nach dem Auftreten des ersten Falls gilt inzwischen als einigermassen sicher, dass das südostasiatische Land ein Sonderfall ist: Man hat die Epidemie offenbar im Griff. Die bisher nachgewiesenen 3200 Covid-19-Erkrankungen nehmen sich im internationalen Vergleich jedenfalls verschwindend gering aus: Grossbritannien, mit ähnlicher Bevölkerungsgrösse, zählt hundertmal mehr Fälle; in Singapur ist die Infektionsquote rund 170 Mal höher.
Rätselhaft gute Bilanz
Für die zweitgrösste Volkswirtschaft in Südostasien, die sich als Tor zu Asien zu positionieren sucht, sind das eigentlich gute Nachrichten. Doch diese Statistik spiegelt nur die eine Seite der Medaille: Die Grenzen sind nämlich zu, internationale Investoren und Besucher fehlen, und Bangkok muss als Medizinal-Hub bis auf weiteres abdanken. Verbliebene Ausländer, deren Visa im April wegen Covid-19 noch provisorisch verlängert wurden, sollten das Land demnächst definitiv verlassen. Die Aussichten insgesamt bleiben trüb: Die Wirtschaft wird laut Prognosen der Bank of Thailand in diesem Jahr um 8% schrumpfen; bis zu 8 Mio. Arbeitsplätze – das entspricht fast jeder fünften Stelle – sind laut einer Schätzung der Weltbank gefährdet. Mangels Jobs in den Städten kehren viele Thais in die ländlichen Provinzen zurück.
Über die Gründe, weshalb sich die Epidemie in Thailand nicht ausbreitet, wird derweil gerätselt. Für eine grössere Immunität unter der Bevölkerung in der Region sprechen zunächst die ebenfalls niedrigen Zahlen in Vietnam, Laos, Kambodscha, Burma sowie in der im Norden angrenzenden chinesischen Provinz Yunnan. Doch die Verlässlichkeit der jeweiligen Zahlen wird (ausser jener zu Vietnam) auch angezweifelt. Denkbar ist, dass die Lebensweise und die Kultur, die weniger Körperkontakte mit sich bringen, die Ausbreitung hemmt. Vielleicht hat es auch mit dem Tragen von Atemmasken zu tun, die in Thailand vorgeschrieben sind und schon vor Covid-19 recht verbreitet waren.
Erfolg und Schaden durch Abkapselung
Oder hilft einfach die weitgehende Isolation des Landes? Bei der Güterabwägung zwischen wirtschaftlicher (und gesellschaftlicher) Freiheit und Schutz vor dem Virus setzte Thailands Regierung bisher auch mittels Notrecht jedenfalls klare Prioritäten: Ein Shutdown im März legte zunächst wochenlang die Wirtschaft und das öffentliche Leben lahm. Mit dem Einreiseverbot schob man dem Import des Virus durch Träger aus dem Ausland einen Riegel; selbst Reisen im eigenen Land blieben lange untersagt, und Transitpassagiere unterliegen scharfen Restriktionen. Glaubt man offiziellen Angaben, gibt es seit über fünfzig Tagen keine Ansteckungen mehr. Diese Lorbeeren gibt die Regierung nicht aus der Hand: Bangkok macht nämlich keinerlei Anstalten, die Abschottung des Landes zu verringern.
Der Erfolg bei der Seuchenbekämpfung durch Abkapselung hat indessen auch in Thailand seinen Preis: Die Wirtschaft wird zwangsläufig an die Wand gefahren, und die Schäden zeigen sich immer deutlicher. Die Depression trifft vor allem die ärmeren Schichten, den informellen Sektor und die Landbevölkerung, wodurch das Wohlstandsgefälle noch ausgeprägter wird. Kritische Stimmen in Bangkok warnen denn auch davor, dass mit der Wirtschaftskrise die latent vorhandene politische Instabilität wieder zunehmen dürfte.
Arbeitslose Thai warten vor einem Beschwerde-Center, um bisher nicht ausgezahlte staatliche Hilfeleistungen über 5000 Baht (umgerechnet 143 Fr.) für drei Monate zu erhalten.
«Leben mit dem Virus»
Bezüglich Wachstumsdynamik trug das Land schon vor dem Covid-19-Ausbruch das Schlusslicht in der Region; 2019 belief sich das BIP-Wachstum auf bescheidene 2,5%. Mit dem Kollaps des internationalen Besucherstroms, der 2019 ein Ausmass von rund 40 Mio. Touristen erreichte, ist nun auch noch ein tragender Pfeiler der Wirtschaft weggebrochen, der rund 12% des BIP ausmachte. Die Schockwellen haben längst das ohnehin überdimensionierte Angebot des Detailhandels, die Nachfrage nach dauerhaften Konsumgütern sowie den Immobiliensektor erreicht, wo sich nunmehr ein wachsender Überhang abzeichnet.
In der Bevölkerung wird das Virus keineswegs unterschätzt. Ein Indikator dafür ist etwa, dass die Maskentragpflicht viel besser befolgt wird als das Helmobligatorium für Motorradfahrer. Aber wegen des wirtschaftlichen Einbruchs und aufgrund der als zu schwach empfundenen sozialen Abfederung durch die Regierung wachsen Unsicherheit und Unzufriedenheit. Letztere findet Widerhall in der Industrie und in akademischen Kreisen: Somchai Jitsuchon, der Forschungsdirektor am Thailand Development Research Institute (TDRI), plädiert inzwischen für ein «Leben mit dem Virus». Ohne Impfstoff sei «Nullinfektion» ein illusorisches Ziel, das die Wirtschaft abwürge.
Reichlich Pulver verschossen
Noch ist unklar, welchen Kurs die Regierung in Bangkok in den nächsten Wochen steuern wird; Transparenz war nie ihre Stärke. Dass es aber innerhalb des Kabinetts kürzlich zu Spannungen gekommen ist, ist am Rücktritt von vier Ministern erkennbar, die Mitte Juli das Handtuch geworfen haben. Unter ihnen befindet sich der Finanzminister Uttama Savanayana, der für die Nachtragshaushalte und Stützungsmassnahmen im Umfang von umgerechnet 68 Mrd. $ verantwortlich zeichnete. Auch der stellvertretende Premierminister und einflussreiche Wirtschaftsberater Somkid Jatusripitak ist zurückgetreten. Beider Nachfolge ist noch offen.
Letztlich steht Thailand derzeit vor einem ähnlichen Problem wie Singapur: Hüben wie drüben sieht man im Virus den Todfeind und setzt auf Isolation. Gleichzeitig sind diese zwei Länder aufgrund ihrer Drehscheibenfunktion im internationalen Handel, im Flugverkehr und im Tourismus wirtschaftlich stark exponiert – und Besserung ist nicht in Sicht. In beiden Fällen hat man mit Ausgaben von rund 70 Mrd. $ auch schon reichlich Pulver verschossen. Sowohl in Bangkok als auch Singapur werden sich die Folgen auf dem Arbeitsmarkt derweil erst im dritten und im vierten Quartal manifestieren.
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